„Du bist nicht der erste, der mich das fragt.“ grinst Zorsha.
„Als wir den Schädelspalter jagten, brannte diese Frage auch in unserer Freundin Yleene. Wir kannten uns ja kaum und sie fragte sich immer und immer wieder, wie kann eine Novadi eine Amazone werden.“

Die blonde Novadi lachte hell auf.

„Und es hat einige Zeit gedauert, bis sie sich getraut hat zu fragen. Anders als du!“

Wieder grinst sie, dann schweift ihr Blick ab.

„Ich weiß noch gut, wie es damals war …..



…. Vinsalt lag noch knapp 8 Meilen Fußmarsch entfernt. Gutgelaunt saßen die sechs vor der Schänke an einem Holztisch und ließen sich im Schein der Sonne einen Krug Bier schmecken. Mürrisch setzte der Wirt ihnen einen großen Teller mit Brot, Käse, etwas kaltem Fleisch und Äpfeln vor, kassierte direkt und ward nicht mehr gesehen.

Nachdem sie sich gestärkt hatten, machten sich die Freunde wieder auf den Weg.

Unterwegs schob Yleene sich plötzlich ziemlich dicht an Zorsha heran. Die Novadi blickte die Magierin fragend an.

"Zorsha, ich würde dich gerne etwas persönliches fragen." meinte Yleene nach einer Weile.

"Nur zu!"

"Nun, wie kann es sein, dass du als Novadi eine Amazone werden konntest? Ich meine, die Novadi glauben doch an Rastullah, den Eingott, und die Amazonen sind ein strenggläubiger Rondra-Orden. Wie passt das zusammen?"

Die Novadi lachte leise.


"Das ist ganz einfach, Yleene." sagte sie. "Du hast sicherlich bemerkt, dass meine Haut für eine Novadi recht hell ist. Und blonde Novadi sind auch recht selten. Um es kurz zu machen: Mein Vater war ein mittelländischer Abenteurer, der den Ben Tovarr in einer Notlage selbstlos geholfen hatte und auf seinen Wunsch hin die Erlaubnis erhielt, bei dem Stamm zu bleiben. Er war sehr angesehen und obwohl er ein Ungläubiger war, nahm er nach einigen Jahren eine hohe Stellung im Stamm ein."

Yleene schaute die Novadi stirnrunzelnd an.

"Das ist kaum etwas Außergewöhnliches im Norden der Khom. Die Novadi leben, wie du sicher weißt, nach den 99 Gesetzen. Aber bei den nördlichen Stämmen, die viel Kontakt mit den sogenannten Ungläubigen haben, hat sich eine sehr freie und tolerante Denkweise entwickelt. Zwar wird dir jeder beni Tovarr die Kehle durchschneiden, wenn du seinen Gott beleidigst, aber der Umgang mit Mittelreichern oder anderen Andersgläubigen ist seit vielen Götterläufen sehr freigeistig.
Es heißt zwar im 53. Gesetz: „Der Gottgefällige meidet die Ungläubigen und wechselt mit ihnen weder Worte noch Blicke“, doch mein Vater hat den Stammesältesten und zwei der hervorragenden Krieger des Stammes aus einer Situation gerettet, die sie Ihre Ehre und die Ehre des Stammes gekostet hätten. Und im Gesetz 28 heißt es: „Der Gottgefällige ehrt und liebt seine Sippe und seine Kampfgefährten“ und im Gesetz 30 steht geschrieben: „Der Gottgefällige steht seinen Kampfgefährten und seiner Sippe auch dann treu zur Seite, wenn sein Leben gefährdet ist.“ Dadurch dass mein Vater die Ehre des Stammes rettete, waren sie ihm verpflichtet, obwohl er ein Ungläubiger war! Es ist schwer das zu verstehen. Aber das Gesetz 33 sagt auch: Der Gottgefällige ist seiner Sippe und seinen Kampfgefährten im Kampf um deren Ehre dienlich, denn ihre Ehre ist auch die seine.“


Hätten sie also meinen Vater, als Retter der Stammesehre abgewiesen, hätten sie trotzdem vor Rastullah ihre Ehre wieder verloren. Bei den meisten Stämmen der Zentralkhom und im Süden der Wüste wäre das absolut undenkbar gewesen! Und nirgendwo steht geschrieben, dass ein Ungläubiger auch ein dummer oder schlechter Mensch sein muss. Und da mein Vater der Religion des Stammes mit Achtung und Höflichkeit gegenübertrat, war es für keine der beiden Seiten ein Problem. Schließlich erhielten er und die Frau seines Herzens nach langer Wartezeit, vielen hitzigen Diskussionen, nach Prüfungen und Beratschlagungen die Genehmigung des Ältestenrates zu heiraten. Tja, er wurde Vater eines Mädchens, das er heimlich im Glauben an Die Zwölf erzog. Ich wurde zwar unter dem Zeichen des Phex geboren, aber ich habe von frühester Jugend die Leuin verehrt. Aber wir waren immer etwas Anders, wenn du verstehst, was ich meine. Wir wurden nicht gemieden oder ausgegrenzt oder so etwas. Aber mein Vater lehrte mich die Waffenkunst, das Reiten und vor allem Selbständigkeit. Das ist jedoch alles nicht gerne gesehen bei den Novadi. Meine Mutter starb als ich elf war und mein Vater folgte ihr schon sechs Götterläufe später in Borons Reich. Da verließ ich den Stamm."

"Das tut mir leid." murmelte Yleene.

"Oh nein, " erwiderte Zorsha, "ich ging ja nicht im Zorn und ich wurde auch nicht aufgefordert zu gehen, es war mein eigener Wille. Meine Großeltern und die anderen Verwandten baten mich auch zu bleiben. Aber ich wollte fort. Ich erlebte einige kleinere Abenteuer, bevor ich mit meinen Freunden hier zusammentraf. Ich werde es nie vergessen, das Wirtshaus im Kosch, wo wir uns begegnet sind, hieß "Zum schwarzen Keiler". Ja, und von da an war mein Leben ein einziges Abenteuer. So kamen wir auch eines Tages nach Kurkum, wo ich Königin Yppolita zu Diensten sein konnte. Sie gewährte mir einen Wunsch.“

Zorsha seufzte tief beim Gedanken an diese Zeit.


„Und damals war es mein größter, mein sehnlichster Wunsch dort zu bleiben und von ihrer Garde ausgebildet zu werden. Und obwohl ich zur Hälfte eine Novadi bin hielt die Königin ihr Wort und ich durfte zwei Götterläufe in Kurkum bleiben. Eigentlich wäre ich als Offizier ausgeschieden, aber das war das Zugeständnis an meine Herkunft: ich darf keinen Amazonentitel oder Dienstgrad tragen."

"Um genau zu sein, " mischte sich da Faramir ein, "ging unsere Zorsha für zwei Götterläufe durch eine wahre Knochenmühle. Sie hat jeden Tag bis zur Erschöpfung gearbeitet, gelernt und trainiert und hat in der Garde gedient. Eine absolute Seltenheit bei Frauen, die sich nicht von Jugend an in der jeweiligen Ordensburg hochgedient haben. Aber, Den Zwölfen sei Dank, konnten wir sie nach diesen zwei Götterläufen wieder mit uns auf Abenteuersuche nehmen."

Yleene nickte bedächtig.



Du hast so fasziniert zugehört, dass dir erst jetzt auffällt, dass die Amazone dich offensichtlich schon länger amüsiert ansieht.

„Meine Geschichte scheint dir gefallen zu haben!“ stellt sie zufrieden fest. „Aber wenn du noch mehr wissen willst … frag ruhig.“

Zorsha lehnt sich in ihrem Sessel zurück und schließt entspannt die Augen. Du tust es ihr gleich und lauscht zufrieden dem Prasseln des Kaminfeuers.